Theoretisch, schreibend, sowie tänzerisch arbeitet Sophie Germanier für Es Meitli het welle zTanz goh (von «Der Tüfel a
s Tänzer») mit den Lücken in der Schweizer Tanzgeschichte. In der Ausstellung hinterlässt sie eine Publikation, in der sie ihre Recherche mit den Besucher*innen teilt.
Sophie Germanier in Zusammenarbeit mit Lan Perces
INTRO (Publikation)
Diese Publikation geht auf Spurensuche nach alten Tän- zen in der Schweiz. Ab dem 14. Jahrhundert wurde das Tanzen in der ganzen Schweiz durch Sittenmandate re- glementiert und Tanzverbote wurden im ganzen Land ausgesprochen. Dies bedeutete, dass die Menschen nur noch an wenigen Tagen im Jahr öffentlich und privat tan- zen durften. Bei einem Verstoss gegen das Tanzverbot musste man mit Bussen und Gefängnisstrafen rechnen. Auch mit dem Verlust des Seelenheils wurde den Leuten Angst gemacht.
Diese Publikation sucht nach Tänzen, die durch das Tanzverbot verboten und folglich vergessen gegangen sind. Was waren das für Tänze? Wo schlummern sie jetzt noch?
Das letzte Tanzverbot ist 2011 in Baselland aufgehoben worden. Heute ist es erlaubt, überall und zu jeder Zeit zu tanzen. In der Praxis wird das meiner Meinung nach aber nicht getan. Tanz ist auch in der heutigen Schweizer Gesellschaft nicht Teil des Alltags; eine spontane Tanzaktion im öffentlichen aber auch im privaten Raum sieht man selten bis gar nie. Getanzt wird in Theater- und Tanzhäusern, in Ausbildungsstätten für Tanz und in Nachtclubs. Wirkt das Tanzverbot aus dem Mittelalter bis in die Gegenwart nach? In meiner Recherche habe ich mich gefragt, ob Tanz vor dem Verbot einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert oder Nutzen hatte. War Tanz Brauchtum, Teil des Alltags?
Der Kern des Tanzverbotes liegt möglicherweise im Christentum. Das Christentum setzte sich bis zum Hoch- mittelalter als vorherrschende Religion in Europa durch und prägte jeden Lebensbereich der Gesellschaft.
Das Christentum forderte ein gesittetes Leben, in dem der Tanz keinen Platz hatte. Um den damals neuen Glauben zu festigen, grenzte sich das Christentum durch Verbote von den sogenannten «heidnischen» Bräuchen ab. Die heidnischen Bräuche interessieren mich für diese Recherche deswegen besonders. Was waren das für Bräuche und Tänze? Wieso fühlte sich das Christentum von ihnen bedroht?
Wo finde ich Überreste dieser Tänze?
Berge ziehen mich an. Ihre mystischen Kräfte, ihre um- werfende Schönheit und ihre angsteinflössende Unbe- rechenbarkeit haben mich schon immer auf eine Art be- rührt, der ich noch nirgends anders begegnet bin. Viele Menschen teilen diese Faszination für die Berge: Man findet sie auch in Überlieferungen, die weit zurück in der Geschichte der Menschheit liegen. Wenn wir also davon ausgehen, dass besonders in den Bergen Kräfte spürbar sind, die eine übermenschliche Dimension auftun, bin ich überzeugt, dass es besonders in den Berggebieten Brauchtümer gegeben haben muss, die sich mit dieser Ebene befasst haben. Mit dem christlichen Glauben hat man Natur-Ereignisse und ihre Kräfte durch das Tun von Gott oder dem Teufel erklärt. Aber wie ist man davor mit dieser spürbaren, übermenschlichen Ebene umgegangen? Man geht davon aus, dass es in den Berggebieten der Schweiz, vor der Christianisierung verschiedene Natur- Religionen gab. Funde von Opfergaben bei Quellen, Flüs- sen und auf Berggipfeln zeigen, dass Formen von Ver- ehrung der Umgebung Brauchtum waren. Ich stelle mir vor, dass auch Tänze Teil dieser Natur-Religionen waren, durch die man die Natur verehrt hat und durch die man auf eine körperliche Ebene mit ihr in Verbindung getreten ist.
Wenn ich tanze, bin ich in Verbindung; nicht nur mit den vielen Teilen in mir, sondern auch mit den Dingen um mich herum. Im Tanz kann ich auf eine nonverbale, nicht wissenschaftliche und singuläre Art empfinden und in Kontakt mit meiner Umgebung treten. Ich habe ein Repertoire an Scores (Anleitungen) erarbeitet, die mich dazu anleiten für Akteur_innen in der Umgebung zu performen. Mit dieser Praxis versuche ich mich auf eine spielerische Weise mit der Umgebung zu verbinden und dabei neue Beziehungen zwischen mir und ihren Akteur_innen zu kreieren. Performing for m., aus 2019, ist eine Arbeit von mir, in der ich für Berge tanze. Ich bin sicher, dass schon viele Menschen vor mir für Berge getanzt haben. Was waren das für Bergtänze? Was ist mit diesen Tänzen geschehen, nachdem sie durch das Tanz- verbot unterdrückt wurden? Wie finde ich sie?
«Es gibt aus alter Zeit wenig Dokumente, und die diversen Deutungen der erhaltenen Brauchtumstänze sind recht umstritten.» So die Tanzhistorikerin Ursula Pellaton, in unserem Austausch über die ältesten Tänze, die im Schweizerischen Archiv für Darstellende Künste archiviert sind. Sie erzählte mir, dass es eigentlich keine Bestände von Tänzen vor Zeiten des Christentums gibt.
Wenige Ausgrabungen, Überlieferungen von Kulten oder Märchen deuten jedoch darauf hin, dass es tänzerische Brauchtümer und Rituale gegeben hat. Volkstäne oder Tänze in Fastnachtsumzügen sind vielleicht die ältesten noch erhaltenen Tänze. Ursula Pellaton meinte, dass in diesen Tänzen womöglich Elemente zu finden sind, die aus vorchristlicher Zeit stammen.
Mit diesem Fokus habe ich mich in meiner Recherche durch verschiedene Gebiete und Zeiten der Geschichte im Gebiet der heutigen Schweiz leiten lassen. Die folgenden Seiten dieser Publikation geben dem momentanen Stand der Recherche eine Form. Die Suche nach Elementen von Tänzen aus vorchristlicher Zeit wandert durch Märchen, durch Archivmaterial, durch Volkstänze, durch überliefertes Wissen über die Räter und Kelten und sucht dabei «heidnische» Bräuche auf. Der Fokus liegt in der Recherche auf dem Alpenraum und versucht, möglichst spezifisch auf das Gebiet des heutigen Graubündens einzugehen. Da es generell sehr wenige Überlieferungen aus vorchristlicher Zeit gibt, beziehe ich mich in der Recherche deswegen manchmal auch auf die ganze Schweiz.